Wie ich als Vertriebener ein neue Heimat fand
Adolf Dinter
Unfreiwillig in den Westen
Wir schrieben das Jahr
1946. "Die 100.000 t-Grenze muß überschritten werden!",
so stand es in jedem Arbeitsamt mit riesigen Buchstaben. Gemeint war die Steinkohle.
Ohne Kohle gab es keinen Strom (Stromsperren), keinen Stahl, keinen Kalk, keinen
Zement und auch keine Devisen. Papiergeld war genug da, aber es war nichts wert.
Die Goldschätze waren von der SS und den Siegermächten geplündert,
die Kohlengruben abgesoffen und die Förderanlagen bombardiert.
An der Zonengrenze standen Werber, die jeden ansprachen: "Wir brauchen
Bergmänner", sagten sie und versprachen gute Verdienste, Gratisfahrkarte,
Wohnung, zusätzlich Nahrungsmittel und Sonderzuteilungen.
Bis zur Währungsreform
war ja Hungersnot. Diese Zeit habe ich nach meiner Vertreibung und totaler Verarmung
- 20 kg Handgepäck durften wir mitnehmen - auf einem Bauernhof im Wesertal
überlebt. So konnte ich meinen Eltern helfen, damit sie nicht zu hungern
brauchten. Auf dem Hof habe ich mich wie auf meinem väterlichen Bauernhof
eingesetzt, mehr noch, tags und nachts hab ich mich gekümmert. Ich wurde
wie ein eigenes Familienmitglied behandelt. Der einzige Hoferbe war in den letzten
Tagen des Zweiten Weltkrieges gefallen.
Der Besitzer war seelisch abgetreten. Ich habe auf dem Hof alles wieder auf
Vordermann gebracht und modernisiert.
Nach der Währungsreform stimmten aber die Pfennige nicht mehr. Zu dieser
Zeit war ich fast 30 Jahre alt. Mein Vater fragte mich: "Willst du nicht
langsam an Heiraten denken?"; ja mit was?: Ich besaß nicht einmal
ein Bettgestell.
Da tauchte meine Base mütterlicherseits mit ihrem Mann auf. Der war vom
polnischen Bergbau im Neuroder - Waldenburger Kohlengebiet (meiner Heimat)
"frei" gesetzt worden und im Uranbergbau im Erzgebirge gelandet. Diese
ungesunde tödliche Arbeit hatte er sofort durchschaut, er ließ sich
über Berlin nach "Carolus Magnus" anwerben. Dort bekam er sofort
eine Wohnung und hatte einen Spitzenverdienst. "Wenn du viel Geld brauchst,
kommst du mit mir.", sagte er.
Neue Existenz
Der Betriebsführer
auf "Carolus" sagte nur 3 Wörter: "Morgen früh anfahren".
Aber der zuständige Arzt sagte wegen meinem Schulterschuß "untauglich".
Da schickte der Mann meiner Base mich nach Siersdorf zur Grube "Emil Mayrisch".
Da hatte ein Obersteiger das "Sagen". Nach kurzem Gespräch und
Einsicht in mein Zeugnis sagte dieser: "Morgen früh anfahren, zuerst
zum Arzt und dann zum Arbeitsamt."
Der Arzt hörte nur mein Herz und meine Lunge ab und frug: "Sind sie
Hochleistungssportler?" "Tauglich!", war sein Befund. Nun schnell
mit dem Fahrrad nach Jülich. Oh Gott, wie sah es dort aus. Rechts und links
der Straßen häuften sich noch die Trümmer, nur die Straßenmitten
waren frei. Das Arbeitsamt fand ich auf einer Wiese auf dem Schloßplatz
in einer Holzbaracke. "Wieso sind sie dort eingestellt? Da ist doch Einstellungstop!"
Keine Ahnung, ich muß jedenfalls um 6:00 Uhr da antreten.
Auf dem Personalbüro und beim Betriebsrat wurde ich vor der Anfahrt sehr
freundlich behandelt.
Am 11. März 1950
machte ich meine erste Seilfahrt. Sie führte mich in Begleitung eines Ortsältesten
von einer Firma zur 530-m-Sohle. Zunächst ging es zu ebener Erde zum Schacht.
Signale wurden mit einem Seil und dicken Hammer auf eine Glocke gegeben; die
Elektrik war damals noch nicht so weit. Da kam ein Kübel (großes
eimerartiges Gefäß an einem Seil) mit vier Mann von der Nachtschicht
hoch, in 2 m Höhe wurde angehalten, dann der Schacht mit 2 Klappen dicht
gemacht, der Kübel drauf gehängt und ausgestiegen, umgekehrt bei den
Leuten der Frühschicht, die stiegen dann ein. Ein komisches Gefühl
beschlich mich. Fast geräuschlos ging es in die Tiefe. Auf der 530-m-Sohle
angekommen, machte mich der Ortsälteste auf mögliche Gefahren aufmerksam.
"Vor Ort", meinem Arbeitsplatz für die nächste Zeit, wurde
ich in die Tätigkeiten eingewiesen, die ich zu verrichten hatte. Fünf
kleine Grubenwagen mit Ziegel, Sand und Zement mußten einige hundert Meter
weit mit Hilfe von Seilwinden transportiert werden. "Mach schnell, es fehlt
am Material." Klatschnaß kam ich am Bestimmungsort des Materials
an. "So, nun zeige ich ich dir, warum alles so schnell gehen muß.
Hier ist Fließsand durchgebrochen. Wenn der ganz durchbricht ist die Schachtanlage
verloren, deswegen diese teure Mauer." Mir wurde ein armdickes Rinnsal
gezeigt; Teichschlamm würde ich sagen, roch auch so. Nach Tagen bekam ich
Hilfe, die aber keine war. Ein ehemaliger Betriebsführer, degradiert, weil
in seinem Betrieb russische Kriegsgefangene zu Tode gekommen waren. Ein kranker
Mann, er hat mir leid getan.
Das ging so wochenlang, an Werk- und Sonntagen.
Auf einmal sprach jemand von Lohntag und von Abschlagszahlung, bisher nie gehörte
Worte. Da gab es Lohn für 20 Tage mit den Prozenten für Überarbeit;
alles auf einmal. Soviel DM hatte ich noch nie in meinen Händen gehalten.
Das sind ja 95%! Du hast den Schlepperlohn übersprungen!
Endlich war die Sicherheitsmauer fertig.
Zusammen mit viele anderen Kumpeln wurde ich nach "Maria Hauptschacht"
verlegt. Dort herrschte ein anderer Ton; Hitze, Schweiß und Staub machten
einem sehr zu schaffen. Am "Haken" (Vorrichtung zum auf- und hochhängen
der Kleidung) sollte man nur soviel Geld hochziehen, daß man ein Stück
Seife kaufen konnte. Mehr Geld wurde als "Verleitung zum Kameradendiebstahl"
(ein militärischer Ausdruck) ausgelegt.
Auf "Maria" hatte ich meine erste Seilfsahrt im "Korb" (an
dem Förderseil hängendes, quaderförmiges, von Lochblechen umschlossenes
Gestell).
Mein Hauer führte mich in ein senkrechtes Flöz. Da wurde im Zick-Zack
abgebaut. Als wichtigste Regel galt: Sicherer Ausbau und jeden Schritt mit Bedacht
ausführen.
Nach Wochen kam ich in einen neuen Betriebspunkt; ein Abhauen, fast senkrecht,
80° steil.
Später eine neue Parole: "Der Norden muß erschlossen werden."
Dort war kaum noch Wetterführung; "heiße Zone", 32°
und 100% Luftfeuchtigkeit. Die Arbeitszeit betrug nur 6 Stunden. Die besten
Hauer kamen dahin. Die pickten sich die zuverläßlichen Lehrhauer
raus. Einer war für 10 Liter Kaffee zuständig, ich für alles
"Gezähe" (bergmännische Werkzeuge) verantwortlich. Da waren
viele Meter Streckenausbau total zerdrückt. Es hat viel Schweiß und
Geld gekostet, bis wir da durch waren.
Dann sofort wieder in ein Abhau, da verdiente ich mehr und machte mehr Spaß.
Von der 820-m-Sohle schoß eine Firma einen Blindschacht nach oben (Aufbruch).
Eine Arbeit nur für Spezialisten, alle groß, gesund und überdurchschnittlich
intelligent, alles ehemalige SS Leute. Diese wurden mit Vorliebe von der Firma
eingestellt. Die kamen in der Waschkaue und frugen: "Wie weit seid ihr?
Wir kommen heute zum Durchschlag mit euch (zwei Grubenbaue stoßen aufeinander).
Eine wichtige Absprache war zu treffen; wir schießen (sprengen) um 12:00
Uhr, stellt euch die Uhren genau. Ihr müßt um diese Zeit aus dem
Abhau raus sein. Zur Kontrolle wurde noch ein Loch von 25 cm Durchmesser vom
Aufbruch in unseren Abhau gebohrt. Es kam genau in der Mitte unseres Abhaus
an; eine Meisterleistung von unseren Markscheidern (Vermessungsleuten).
Familiengründung
Nun ein Blick in mein Postsparbuch,
da waren schon viele Zahlen drin. Das müßte für eine Familiengründung
reichen. Aber meine Verlobte, eine Nachbarin von meinem väterlichen Hof
südlich von Breslau, Kriegerswitwe, war bei der Vertreibung aus Schlesien
in die Ostzone gekommen.
Da war ein amtliches Heirats-Aufgebot und ein Ausreiseantrag nötig.
Das ging aber alles schnell (wahrscheinlich weil sie Anrecht auf Kriegerwitwenrente
hatte).
In feste Hände
Die Hochzeit wurde schlicht
und einfach mit Hilfe guter Nachbarn gefeiert. Die Flitterwochen waren kurz.
Der Jahresurlaub fing ja nur mit 12 Tagen (damals 2 Wochen) an.
Ich mußte weiter im Ledigenheim wohnen, konnte dadurch aber viel Geld
sparen. Das Essen, Kantine und Wohnen waren gut und preiswert. Durch meine Heirat
hatte ich nun Anrecht auf eine Neubauwohnung. Nach Monaten besuchte mich meine
Frau, die wohnte ja bei meinen Eltern in Wesertal. Sie half mir bei der Suche
nach einer Wohnung. Die Auswahl war groß, besonders in Aldenhoven. Bald
stand eine Umzugsfirma bereit. Die Möbel standen in einer Tischlerei im
Wesertal parat. Die waren in dem Billiglohngebiet um ein Viertel billiger, bei
Barzahlung gab es nochmals Rabatt. Endlich Eigentum und ein gemütliches
Heim.
Aldenhoven
Am 7. Oktober 1950 zogen
wir in unsere Wohnung in der Martinusstraße.
Große Umschau im neuen Ort. Erster Einkauf im Tante Emma Laden. Wollte
mit einem 100 DM Schein bezahlen, aber der Schein wurde gegen Licht und von
allen Seiten betrachtet. "Den Schein kann ich nicht annehmen, das ist der
erste den ich in der Hand halte. Kann auch nicht rückzahlen, habe nicht
soviel Kleingeld. Schreibe vorerst an." Mir blieb nur die Sparkasse aufzusuchen.
Ich fand diese kurz vor der heutigen Feuerwache. Ein Zimmer mit Tisch einem
Sessel, zwei Stühle ein Regal, ein Stahltresor und ein alter Herr. Der
versprach mir 1% mehr Zinsen, wenn ich ein Sparbuch bei ihm anlegen würde.
Ich wurde Kunde bei der Kreissparkasse Düren und bin es heute noch. Einfacher
ging es nicht, im Vergleich zu den heutigen Sparkassenpalästen.
Der Traum vom Eigenheim
Eines Tages sprach mich
der Betriebsrat an. Wir bauen jetzt auch Eigenheime. Wer 10% Eigenleistung aufbringt,
kommt auf die Liste.
Mein Vater sagte mir, "sofort mitmachen." Adenauer hat uns lange genug
belogen, mit den Worten: "Nach der Friedenskonferenz kommt ihr wieder zurück
nach Schlesien auf euer Hab und Gut." Aber die Friedenskonferenz ist bis
heute nicht gewesen.
In diese Finanzierung floß ein Drittel Marshall-Gelder. Diesem amerikanischen
Minister haben wir viel zu verdanken, er hat unserem geschundenen Volk damit
wieder auf die Beine geholfen.
Neuen Aufgaben
Auf meiner Grube war ich inzwischen in einem Kohlenrevier gelandet; Nachtschicht, Schüttelrutsche umbauen. Meistens war das neue Feld noch nicht frei, mitunter mußten wir zwei Stunden nachfördern; jede Nacht Überstunden.
Neue Methoden
Eines Tages ein neuer Auftrag.
Die Staubbekämpfung: Ein Obersteiger kam aus dem französischen Bergbau
und hatte da beobachtet wie es am besten geht. Da wurden zuverlässige Leute
gesucht, die immer auf Nachtschicht anfahren, ganz wichtig, auch Sonntagabend
22:00 Uhr. Über 20 Mann wurden zu einer Belehrung gerufen. Die Bergpolizei
(Bergbehörde) verlangte Gegenmaßnahmen zur Silikose (Steinstauberkrankung
der Lunge). So wie bisher geht es nicht weiter. Seht euch die jungen Männer
in Mariadorf mal an, noch keine 40 Jahre alt und schon ein Sauerstoffgerät
unter der Jacke.
Die Übergaben von einem Fördermittel aufs andere wurden mit Nebeldüsen
(feinen Wasserschleier versprühen) bestückt. Für die Tränkarbeiten
- Wasser wird mit hohem Druck in die noch nicht abgebaute Kohle gedrückt
- wurden Hochdruck-Wasserleitungen bis in den Streb geführt. Bohrstangen,
handliche Turbinen, und Tränksonden waren nötig; das war alles nicht
billig. Wenn ein Teil davon fehlte und nicht getränkt werden konnte, stimmte
die meßbare Staubstufe in den zwei nächsten Abbauschichten nicht.
Bei Staubstufe drei durften die Kohlenhauer die Arbeit niederlegen. Diese Anordnung
kam die Grube noch teurer. Solche Ausfälle zu verhindern, wurde mir nach
vielen Verbesserungsvorschlägen übertragen.
Mehr Verantwortung
Als nach Jahren ein Obersteiger
von der Grube Alexander kam, wurde ich mit Verantwortungen überhäuft.
Das Wort Sicherheit war bei dem das Größte. Auf alles mußte
ich dann achten. Bei großen Gefahren mußte ich ihn im Bett anrufen;
um 5:00 Uhr sowieso. Ohne Über- oder Untertreibung mußte ich Bericht
erstatten, ohne Mitarbeiter dabei "in die Pfanne zu hauen". Bei dem
großen Eisbeinessen für 25 jährige Mitarbeit wollte er neben
mir sitzen; er bat mich, ihm einen Platz frei zu halten. Er stellte Fragen über
Fragen und kannte am Ende des Festes fast meine ganze Vergangenheit.
Diese verantwortungsvollere Zeit hat mir mein Altersruhegeld zum Besseren verändert.
Was noch zu berichten ist
Schon seit vielen Jahren lebe ich nun zusammen mit meiner Frau in Aldenhoven, in einem Eigenheim mit großem Garten. Jetzt, wo ich älter bin, wird der Garten von einem meiner beiden Söhne bestellt; er hat uns zu Großeltern gemacht.
Adolf Dinter, Februar 2003