Arbeiten in der Fremde
Antonio
D'Orsaneo wurde 1925 geboren in Polambaro, in der Provinz Chieti, Italien. Er
ist 1953 als einer der ersten Italiener zum Bergbau nach Deutschland gekommen.
Er ist verheiratet mit Carolina D'Orsaneo,
die ihm 1958 nach Siersdorf folgte.
Antonio D'Orsaneo erzählt:
1950 bin ich von Italien nach Frankreich gegangen. Dort blieb ich als Bergarbeiter bis 1953. Wir waren dort schlecht untergebracht, wir hatten kein Wasser und keine Toilette in der Baracke. In der ersten Zeit ging es uns gut, was den Verdienst betraf. Doch langsam wurde es schlechter, es gab fast immer Streiks und am Ende des Monats gab es wenig Verdienst. Am 1. August 1953 begann ein Generalstreik, für einen ganzen Monat. Außerdem haben die Algerier für Unruhe gesorgt, die Freiheit für ihr Land von Frankreich forderten.
Eines Tages sah ich den Aushang an einer Agentur: Man sucht in Deutschland Bergarbeiter. Ich ging hinein und fragte nach Informationen, ob der Aushang nur für Deutsche gültig ist. "Ich bin Italiener, kann ich auch nach Deutschland gehen?" Sie haben mir geantwortet: "Du kannst gehen. Es reicht, wenn du beim italienischen Konsulat in Lille ein Visum für Deutschland in Deinen Pass machen läßt." Ich ließ mir sehr zufrieden die Adresse geben, und sie sagten mir, daß es in der Nähe von Aachen war.
Am nächsten Tag fuhr ich nach Lille zum italienischen Konsulat und bekam das Visum in meinen Pass. Ich ging zurück zum Barackenlager und besprach mich mit anderen Landsleuten. Ich sprach auch mit befreundeten deutschen Arbeitskollegen. Sie erzählten uns von dem neuen Bergwerk in Siersdorf, wo viele Arbeiter gebraucht werden, und sagten, daß auch sie in ihr Vaterland zurück kehren wollen.
In kurzer Zeit kamen mehrere Italiener an, die alle nach Deutschland wollten. Aber das italienische Konsulat in Lille bemerkte, dass wir der Arbeit wegen dorthin wollten und weigerte sich, einen Sichtvermerk in den Pass zu machen, denn es gab noch keinen Vertrag zwischen Deutschland und Italien. Daher haben wir angegeben, wir wollten nur zu Besuch fahren.
Als wir in Siersdorf angekommen waren, gingen wir in das Kohlebergwerk "Emil Mayrisch", um nach Arbeit zu fragen. Der Ingenieur wollte uns nicht anstellen, er dachte wir Italiener wären Nichtstuer. Wir konnten uns schlecht verständigen, denn er sprach nur Englisch. Daher rief er den Personalchef, der gut Französisch sprach, und dieser dolmetschte für uns. Er stellte uns viele Fragen, zum Beispiel warum wir hergekommen waren. Wir antworteten, um uns wirtschaftlich zu verbessern. Wir sind alle Bergarbeiter, wir haben drei Jahre in Frankreich gearbeitet und können alle Arbeiten untertage machen. Außerdem waren wir mit Dokumenten versorgt. Die deutsche Kollegen aus Frankreich sprachen auch für uns. Schließlich antwortete der Ingenieur, daß er es versuchen will. Danach waren wir bei einer ärztlichen Untersuchung im Krankenhaus von Bardenberg.
Der Personalchef war ein
sehr guter Mensch und sehr freundlich, und er half uns viel und er sagte, nach
der ärztlichen Untersuchung kommt ihr zurück zu mir, sie werden jedem
von euch einen Brief geben. Sie haben uns von Kopf bis Fuß ärztlich
untersucht. Wir kamen zurück, es ging alles gut, sie ließen uns den
Arbeitsvertrag für ein Jahr unterschreiben.
Sie brachten uns zum Lager drei in der Johannesstraße und sie brachten
zwei Deutsche und zwei Italiener in jedem Zimmer unter. Wir waren zufrieden
mit der Unterkunft, gemachten Betten, Heizkörpern und Sanitäranlagen.
"Es gibt Personal für die Reinigung. Morgen früh müsst ihr
zum Rathaus gehen, um euch zu melden und sie werden euch die Steuerkarte geben
und ihr müsst bezahlen. Der Pass kommt während des Aufenthalt ins
Ausländeramt in Jülich und übermorgen könnt ihr mit der
Arbeit anfangen."
Es war der 1. September 1953, die Gesellschaft hieß Eschweiler Bergwerksverein, abgekürzt EBV, Name der Grube: Emil Mayrisch.
Am ersten Tag haben sie mich mit einem Deutschen eingeteilt, um Kohle zu fördern. Aber ich war nicht zufrieden, weil der deutsche Kollege neu im Bergbau war. Er war noch nicht gewohnt untertage zu arbeiten. Er wollte mit dem Beil Stein hauen, doch das ist ja nur für Holz, nicht für Stein. Da habe ich gefragt, ob ich alleine Akkord arbeiten darf: Am zweiten Tag habe ich dann 15 Meter Kohle gemacht.
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Die neuen deutschen Kollegen beleidigten uns viel. Und sie haben uns ltak genannt oder Badoglio genannt. Aber die deutschen Kollegen, mit denen wir in Frankreich zusammen gearbeitet haben, die verteidigten uns.
Fast immer ging man abends
zusammen weg, wir sprachen französisch miteinander. Die deutsche Küche
war eine gemeinsame Mensa, geteilt in drei Junggesellenabteilungen. Das Mittagessen
war gut, aber nicht ausreichend; nicht geeignet für uns, denn nach einigen
Stunden hatten wir wieder Hunger.
Es gab viel Kartoffeln, aber wenig Fleisch, deshalb hatten wir immer Appetit,
auch die Deutschen beklagten sich.
Abends wollten wir daher unser Essen: Spaghetti. Damals gab es keine Spaghetti zu kaufen. Also kauften wir Elektroplatten, alles was notwendig war, Mehl und Eier, um selbst Tagliatelle mit Eiern zu machen. Im Zimmer zu kochen war eigentlich verboten. Aber wir brauchten viel Kraft zum Arbeiten, denn wir waren jung und wir mussten Meter von Kohle fördern, auch um den Deutschen zu zeigen, wer wir waren. Wir haben unseren ganzen guten Willen eingesetzt und auch um gut zu verdienen.
Am Monatsende bekam man
die Lohntüte, unser Tageslohn war 11 DM brutto, davon gab es die Abzüge
für Essen und Unterkunft, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Kirchensteuer,
Steuern. Zum Glück hatte meine Steuerkarte Klasse III, denn ich war verheiratet
und hatte damals zwei Kinder.
Hier begannen die Schwierigkeiten: Ich habe hier alles bezahlt, aber meine Familie
in Italien hatte nichts, weder Krankenversicherung, Kindergeld etc.
Es gab noch kein Abkommen zwischen Italien und Deutschland. Fünf von uns
Italienern waren verheiratet. Wir sind zur Post gegangen, um ein bisschen Geld
nach Italien zu unseren Familien zu schicken, damit die Familen wenigstens etwas
Brot zum Essen kaufen konnten.
Der Postangestellte sagte uns: "Man kann kein Geld nach Italien schicken,
erkundigt euch, ob man es über die Commerzbank schicken kann." Wir
gingen zum Personalchef des Bergwerks, denn er sprach französisch und er
half uns: Er brachte unser Anliegen dem Ingenieur vor, und sie telefonierten
und sagten uns: "Ihr überweist das Geld der Bergwerkskasse. Der Buchhalter
schickt es der Commerzbank in Düsseldorf, und sie senden es der Commerzbank
in Pescara. Dort schicken sie es zur Post an eure Wohnorte."
Der Ingenieur war sehr zufrieden mit uns und mit unserem Ertrag, und wenn er uns am Arbeitsplatz besuchen kam, grüßte er uns und bot uns Schnupftabak und Kautabak an. Er fragte viele Dinge, aber immer auf Englisch. Wir bemühten uns, ihn zu verstehen.
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Um die Verständigung untertage zu erleichtern, gab es ein Wörterbuch mit Bildern in vier Sprachen, das "Vocabulario Illustrato". In diesem Bildwörterbuch konnte man Bilder von Gezähe und anderen wichtigen Dingen im Bergbau sehen und lesen, wie die Fachbegriffe auf französisch, niederländisch, italienisch und deutsch heißen.
Im Dezember 1953 erreichte
uns ein Einschreiben vom Ausländeramt in Jülich, wir sollten Deutschland
innerhalb 24 Stunden verlassen und bei ihnen vorbeifahren, um den Pass abzuholen.
Wir begaben uns sofort zur Grube, um zu kündigen und das Geld für
unsere Arbeit einzuholen. Wir waren wie zehn Pilger. Da sah uns der Ingenieur
und fragte uns: "Italiener was macht ihr da, streikt ihr?" Wir haben
ihm sofort diese Briefe gezeigt, er las sie und ließ uns in sein Büro
kommen. "Ich entlasse euch nicht, ich brauche euch." Er nahm das Telefon
und begann überall hin zu telefonieren.
Am Ende kam heraus, daß wir uns zum deutschen Konsulat nach Italien begeben
mussten, um einen Sichtvermerk in den Pass zu bekommen, weil das Visum des italienischen
Konsulats nicht ausreichte. Der Ingenieur sagte: "Ich gebe euch unbefristeten
Urlaub, ich gebe euch eine Verdienstbescheinigung, und wenn ihr wiederkommt,
fangt ihr wieder an zu arbeiten."
Ich begab mich nach Italien
zum deutschen Konsulat in Rom. Erst fuhren wir nach Jülich, um den Pass
abzuholen, worin sie uns einen Sichtvermerk machten, um aus aus Deutschland
auszureisen. Ich bin in Köln in den Zug nach Italien gestiegen, doch als
ich in Basel an der Grenze ankam, musste ich meinen Pass zeigen und mir wurde
gesagt: "Mit diesem Visum kannst du nicht mehr nach Deutschland einreisen."
Als ich in Rom ankam, ging ich direkt zum deutschen Konsulat, um das Visum zu
beantragen. Ich wurde mit großer Freundlichkeit aufgenommen. Ich erzählte
mein ganzes Abenteuer und sie gaben mir einen neuen Stempel in den Reisepass,
gültig für fünfzehn Tage.
Weihnachten war nahe, statt wieder den Zug nach Deutschland zu nehmen, nahm
ich den Zug nach Pescara. Ich kehrte nach Hause zurück, um meine Familie
wieder zu umarmen. Nach dem Weihnachtsfest kehrte ich nach Deutschland zurück,
ohne irgendwelchen Ärger. Ich gab den Pass ab und begann wieder zu arbeiten.
Nach wenigen Tagen erhielt jeder von uns seinen Pass mit der Aufenthaltsberechtigung
auf dem in rot und groß geschrieben stand "gültig nur für
Bergarbeit".
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Der Ingenieur telefonierte
mit dem italienischen Konsulat in Köln, er suchte italienische Arbeiter.
Eines Abends im Monat Oktober 1955 wurden nur wir Italiener in den Saal zu einer
Versammlung eingeladen. Um 19 Uhr gingen wir hin und trafen dort den Direktor,
den Ingenieur, den Sozialarbeiter, einen Dolmetscher und den italienischen Vizekonsul.
"Wir brauchen zwei von euch, die bereit sind, nach Italien zu fahren, um
Bewerber für die Arbeit im Bergwerk zu suchen." Und sie sagten uns,
ihr bekommt die Hin- und Rückreise bezahlt, bezahlten Urlaub und 50 DM
für Spesen. Ich und und ein anderer Landsmann aus Paludi nahmen sofort
an.
Der Vizekonsul sagte, bis jetzt seid ihr wie Flüchtlinge, aber mit dieser
Initiative kommt die Emigration und ihr werdet automatisch Emigranten und eure
Familien bekommen alles, was ihnen zusteht, Krankenversicherung, Kindergeld
usw.
Zurück in Italien ließ ich am 3. November 1955 die Nachricht verbreiten, wer nach Deutschland zum Arbeiten kommen wollte, sollte mit einer Geburtsurkunde zu mir nach Hause kommen. Und sie begannen zu kommen, sie stellten mir viele Fragen. Ich gab jedem einen Prospekt der Firma und zeigte Bilder von der Grube, aber ohne Propaganda zu machen. Alle wollten mich bezahlen, aber ich nahm nichts an, ich wurde schon bezahlt. Gegen Ende des Monats November schickte ich eine Liste mit Geburtsurkunden von 122 Personen an die Direktion der EBV. Ich fuhr wieder nach Deutschland, etwa am 5. Dezember. Kurze Zeit darauf wurde das offizielle Anwerbeabkommen zwischen Italien und Deutschland geschlossen.
Einen Tag vor Heiligabend,
genau am 23. Dezember 1955 kam die erste Gruppe von Italienern in Siersdorf
an. Zu ihrem Empfang waren da der Ingenieur, der Direktor und alle Vorarbeiter,
die sie vor der Grube Emil Mayrisch willkommen hießen.
Dort war auch ein Journalist der "Bild"-Zeitung. Er fotografierte,
am nächsten Tag gab es in der "Bild"-Zeitung eine Seite über
die Italiener. Sie schrieben viele Dinge, dass wir ein armes Volk waren, sie
haben etwas übertrieben.
Alle wurden im Lager I untergebracht und der neue italienische Koch hatte ein
schönes Essen vorbereitet, eine sehr gute Pasta und ein gebratenes halbes
Hähnchen usw.
Nach dem Weihnachtsfest haben wir angefangen, in einem neuen Revier zu arbeiten, in 700 Metern Tiefe. Die zweite Gruppe Arbeiter aus Italien kam am 5. Januar 1956. Sie mussten die Art lernen untertage zu arbeiten. In Italien ist man zwar an warmes Klima gewöhnt, doch die Hitze unter Tage ist anders. Drei von uns Erstangekommenen wurden als Vorarbeiter und Dolmetscher für die Neuangekommenen eingesetzt. Die deutschen Kumpel haben zu ihrem Spaß ein Schild gemacht "Revier III a - Itaker-Revier".
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Einer von uns ist einmal
zum deutschen Friseur gegangen. Der hat ihn gefragt, was er will: tiefe Facon,
mittlere Facon, hohe Facon oder spezial.
Er hat spezial gewählt, doch das war schlecht. Also habe ich mit einer
Haarschneidemaschine angefangen, selbst Haare zu schneiden. Die Italiener kamen
zu mir und irgendwann auch einige deutsche Kollegen.
All die Jahre, in denen ich alleine war, ohne Familie, hatte ich kein Heimweh, da ich soviel Arbeit hatte. Alle Hausarbeiten hab ich selber gemacht. Irgendwann bot der Sozialarbeiter mir an, meine Familie nachzuholen, er würde uns sofort mit einer Wohnung und Hilfe unterstützen. Und so fuhr ich im September 1958 nach Italien, um meine Familie holen.
Es war hart für meine
Kinder, wegen der Schule. Sie fingen die deutsche Schule mit der ersten Grundschulklasse
an, obwohl der älteste Sohn schon neun Jahre alt war. Sie lernten schnell
Deutsch. Damit sie ihr Italienisch nicht vergessen würden, habe ich sie
bei der Fernunterrichtsschule beim italienischen Konsulat in Köln angemeldet.
Meine Frau wollte anfangen zu arbeiten; hauptsächlich, um Deutsch zu lernen.
Und so begann sie bei Philips zu arbeiten, erst in Aachen dann in Aldenhoven.
Sie hat 20 Jahre gearbeitet.
Meine Kinder haben nach der Hauptschule eine Ausbildung bei der KFA in Jülich
angefangen. Sie haben die Schule weiterbesucht und ihre Meisterprüfung
gemacht.
Heute zählt meine Familie 15 Personen, mit Enkeln und Urenkeln. Ich bin froh, dass keiner von mir verlangt hat, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ich habe nie gedacht, mein ganzes Leben in Deutschland zu bleiben.
aufgezeichnet von Thomas Langens im Oktober 2002
Antonio D'Orsaneo hat seine Erfahrungen auch in dem Buch "Als ich nach Deutschland kam. Italiener berichten" (Lambertus Verlag, 2001, Freiburg im Breisgau) geschildert.